Damals hatte sie mir geantwortet, ich solle so etwas nicht sagen, ansonsten würde es wahr werden. Dies war eine dieser elterlichen Weisheiten, welche sich tatsächlich als wahr herausstellen sollte. Eine Nacht mit schlimmen Schmerzen später sind wir schlussendlich ins Krankenhaus gefahren.
Diagnose – Überraschung: Blinddarm. Es musste eine Notoperation durchgeführt werden. Mein 11-jähriges Ich hatte zu dieser Zeit nicht einmal gewusst, was ein Blinddarm überhaupt ist.
Wozu ist der denn gut? Von da an begann alles, immer schlimmer zu werden …
Tägliche Bauchschmerzen, Unterleibskrämpfe, Magen-Darm-Probleme. Und, auch wenn das Thema gerne blumig umschrieben wird, fast tägliche Durchfälle.
Sowohl meine Familie, die Ärzte wie auch ich selbst, haben bei der Suche nach der Ursache immer wieder bei meiner Blinddarmoperation angefangen.
Ist bei der Operation etwas schief gelaufen? Vernarbungen? Verwachsungen?
Verdacht auf Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Krebs und vieles mehr.
Doch egal welche Untersuchungen sie an mir haben durchführen liesen, jede blieb ohne Befund, kein Arzt konnte mir den Grund für meine Beschwerden nennen.
Über sieben Jahre wurde ich durch unzählige MRTs und Magen-Darm Spiegelungen gejagt und habe mir anhören müssen, dass „sensible Menschen“ Schmerz einfach ganz anders empfinden. Ehe ich mich versah, fand ich mich in einer Schmerztherapie wieder. Ein paar Tage später las ich mit Argwohn den Abschlussbericht dieser frustrierenden Schmerztherapie: „Frau … war nicht bereit, sich auf die Therapie einzulassen und hat diese nach wenigen Minuten abgebrochen.“ Ich begann mir die Frage zu stellen: „Sind ich und meine Gedanken doch der Grund, nicht mein Körper? Bilde ich mir das Ganze doch nur ein?“ Ich begann mich selbst und meine Empfindungen in Frage zu stellen.
Wenn dir immer wieder gesagt wird, dass dein Schmerz nur ein Phantom deiner Gedanken ist, beginnst du irgendwann, dem Glauben zu schenken.
Ich habe resigniert, mich damit abgefunden und bin zeitgleich in ein scheinbar unendliches Loch der Frustration gefallen. Mein alter Frauenarzt nahm meine zugleich schlimmer werdenden Periodenbeschwerden weniger ernst und versuchte mir stattdessen die Pille und den Verhütungsring aufzuschwatzen. Auch bezüglich meiner nach wie vor präsenten Magen-Darm-Probleme hatte ich mit der Zeit einen ganzen Medikamentenschrank voller Buscopan, Ibuprofen, Vomex A und medizinischer Hefe angesammelt, die meine Ärzte mir zur Linderung meiner Symptome empfohlen hatten.
Das alles kam mir suspekt vor. Wieso werden einem immer wieder medikamentöse Hilfsmittel zur Linderung der Symptome angeraten, aber niemand findet oder sucht noch nach der eigentlichen Ursache der Beschwerden? In mir schlich sich das Gefühl ein, dass ich vielleicht doch nicht einfach nur „sensibel“ war, sondern diese Aussage es den Ärzten leicht macht, einen wieder nach Hause zu schicken, wenn ihre fachlichen Kompetenzen einfach nicht ausreichen. Ich hatte genug von all den halbherzigen Kommentaren von Ärzten und der Oberflächlichkeit, mit der mein Frauenarzt an meine gynäkologischen Beschwerden heranging. Eine Mischung aus Verzweiflung, Wut und Entschlossenheit hatte sich in mir breit gemacht. Nach unzähligen Abenden die ich weinend und vor Schmerzen gekrümmt auf meinem Badezimmerteppich verbracht hatte, ja sogar dort genächtigt hatte, zog ich für mich selber den Schlussstrich.
Wenn mir kein Arzt mehr helfen kann, kein Arzt mir mehr helfen WILL, wenn jeder von ihnen mich ansieht als hätte ich die Aufschrift „Sensibelchen“ auf meiner Stirn geschrieben, wenn nicht mal mehr meine Familie die Kraft hat, mit mir gemeinsam weiter an dem Glauben festzuhalten, dass NICHT meine Psyche das Problem ist, dann war es wohl an der Zeit, mir selber zu helfen. Also nahm ich die Sache selbst in die Hand und begab mich auf die Suche nach dem Grund, welcher möglicherweise auch eine Erklärung für meine Beschwerden liefern könnte.
Im Internet stieß ich auf den Begriff „Endometriose“. Es passte wie die Faust aufs Auge. Ich ließ meinem Krankheitsverlauf der letzten Jahre Revue passieren und mir fiel auf, dass meine erste Periode im gleichen Zeitraum einsetzte in der meine Blinddarmoperation stattfand.
Vielleicht war es nie die Operation gewesen, die mich so viele Jahre leiden ließ. Vielleicht habe ich jahrelang an der falschen Stelle gesucht. Vielleicht gibt es doch Hoffnung, endlich fündig zu werden.
Voller Euphorie lief ich zu meinem Frauenarzt … und bekam direkt die volle Ladung Desinteresse ins Gesicht geknallt. „Endometriose? Kann sein, ABER nehmen sie doch erstmal folgende Pille …“ Es war genug. Ich wechselte zu einem Frauenarzt in Hamburg, in der Nähe meines neuen Heimathauses. Gerüstet mit meinem Verdacht und einer Menge an Durchsetzungswillen ernst genommen zu werden, betrat ich die neue Frauenarztpraxis. Siehe da, ich verließ mit überschwänglicher Freude und einem Überweisungsschein in ein Endometriosezentrum in einem naheliegenden Krankenhaus, die Praxis.
Überwältigt von all dem Zuspruch und der Ernsthaftigkeit, mit der mich meine neue Frauenärztin empfangen hatte, rief ich meine Mutter an, um ihr die erste frohe Botschaft nach langer Zeit zu überbringen. Der Termin stand fest. Und dann kam wieder alles anders, doch diesmal zu meinem Vorteil. Ich bekam wieder meine Periode. Allerdings mit einer solchen Intensität, dass ich kaum mehr aufhören konnte zu schreien und mich im Bett zu krümmen.
Ich konnte meinem lieben Freund, der mich fest umklammerte und versuchte mir Mut zuzusprechen, nicht einmal mehr eine Antwort geben.
Mein Vater war es zu diesem Zeitpunkt fast genauso sehr leid wie ich, dieses Leiden weiter passieren zu lassen. Er war es, der am Ende die Reißleine zog und entschied, mich jetzt und auf der Stelle in die Notaufnahme zu fahren.
Mit dem festen Entschluss, sich dort nicht wieder abwimmeln zu lassen, wie es meinen Eltern im Laufe der letzten Jahre bereits öfter passiert war, wenn sie mit mir in die Notaufnahme gefahren waren, weil sie nicht mehr weiter wussten. Tasche gepackt, ins Auto gesetzt, in das Krankenhaus gefahren in welchem ich in einem Monat den Termin in der Endometriosesprechstunde gehabt hätte.
Und was soll ich sagen? 24 Stunden später lag ich nach einer Bauchspiegelung weinend in meinem Operations-Kittel gekleidet in meinem Krankenbett und hörte nach jahrelanger Ärzte Odyssee meine Diagnose aus dem Mund einer spezialisierten Ärztin:
„Es wurden mehrere Endometrioseherde gefunden. Zudem starke Verwachsungen und Vernarbungen unter Ihrer Bilddarmnarbe.“
Kennt ihr das, wenn euch die Luft zum atmen wegbleibt?
Wenn sich die Lunge zuschnürt und die Augen sich mit Tränen füllen?
Wenn man einfach weinen muss, weil man alles und gleichzeitig nichts fühlt?
Eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Im Nachhinein ein Wunder, dass all diese Empfindungen mir kein mentales Schleudertrauma zugefügt haben. Unendliche Erleichterung endlich den Grund für all den Schmerz zu kennen, Wut auf all die Ärzte, die mir nie glauben wollten, Angst vor der Diagnose und dem was sie mit sich bringt und eine tiefe Erschöpfung von all dem, was ich schon hinter mir hatte…
Mai 2020, 2 Wochen vor meinem 18 Geburtstag. 3 Monate nach der Diagnose.
Wer bereitet eine Frau mit dieser Diagnose auf das vor, was danach folgt?
Wer denkt, die Diagnose bedeutet das „Happy End“ dieser schmerzhaften Reise, ein glückliches Ende mit dem Wissen, man war nie verrückt und der Teufel hat endlich einen Namen, der irrt sich. Tatsächlich ist die Diagnose wie der Anfang eines neuen Kapitels der eigenen Geschichte mit der Endometriose, die jede betroffene Frau ganz individuell für sich selbst lebt.
Ich hätte mir gewünscht, jemand hätte mir vorher gesagt, wie begrenzt die Behandlungsmöglichkeiten sind und dass eine Operation keineswegs bedeutet, danach schmerzfrei zu sein. Ich hätte mir gewünscht, jemand hätte mir gesagt, wie viel von meinem Sozialleben ich werde aufgeben müssen und wie weh es tut, Freunden absagen zu müssen. Ich hätte mir gewünscht, jemand hätte mir gesagt, wie schwer es für mein Umfeld sein wird meine Krankheit zu akzeptieren und die guten und schlechten Tage differenzieren zu können, ohne mich dabei nicht ernst genug zu nehmen. Und allem voran hätte mir gewünscht, jemand hätte mich darauf vorbereitet, dass ich alle meine Pläne und Wünsche für die Zukunft neu werde überdenken müssen. Ich wünschte, jemand hätte mich vorbereitet, auf die berechtigten Existenzängste, die solch eine Diagnose mit sich bringt.
Ich würde gerne einen Appell an all die Frauen richten, die sich bei ihrem Arzt / Ärztin nicht ernst genommen gefühlt haben. An all die Frauen, die ohne Diagnose nach Hause geschickt wurden. Wir müssen auf uns aufmerksam machen. Für uns. Und besonders für alle die, die nach uns vor der gleichen Hürde stehen. Es wäre ratsam, jedem Arzt, der keine Endometriose in Erwägung gezogen hat, eine Nachricht, einen Leserbrief, zukommen zu lassen.
1 von 10 Frauen hat Endometriose, aber dennoch haben die wenigsten Ärzte diese Krankheit im Hinterkopf, wenn Frauen mit Beschwerden im Unterleib um Hilfe bitten. Die Dunkelziffer an erkrankten Frauen ist mit großer Wahrscheinlichkeit noch viel höher, eben weil viel zu wenige Ärzte die Krankheit auf dem Schirm haben. Wie wahrscheinlich ist es, dass schon morgen eine junge Frau mit Endometriose ohne Diagnose nach Hause geschickt wird?
Besonders in meinem Fall, mit 17 Jahren eine Diagnose bekommen zu haben, darf und muss ich mich glücklich schätzen. Ich habe früh die Chance bekommen, mir Wissen und Möglichkeiten anzueignen, für meine Zukunft vorzusorgen. Wie viele Mädchen, die ebenso wie ich im frühen Alter angefangen haben zu menstruieren und die starke Schmerzen oder andere Symptome aufweisen, könnte ein jahrelanger Ärzte-Marathon, all der Schmerz, psychisch und physisch erspart bleiben, wenn Ärzte anfangen eine eigentlich doch so häufig vorkommende Krankheit mit in ihre Palette aus möglichen Erkrankungen aufzunehmen?
Endometriose ist auf ihre Art brutal, besonders weil sie durch ihre Unbekanntheit mit einem ausgeprägten Kampf in der Gesellschaft einhergeht.
Doch zugleich bin ich stolz zu sehen, wie sehr ich daran wachse. Wie viel gefestigter und stärker meine Persönlichkeit geworden ist. Wie tiefer ich fühle und wie viel näher ich mir selbst gekommen bin. Meinem Körper, meiner Psyche, meiner eigenen Gedankenwelt. Die Einheit, die zwischen meinem Körper und meinem Geist entstanden ist.
Es ist wichtig sich zu erinnern – nicht alles daran ist schlecht.
Diese Geschichte wird noch so viele weitere Kapitel schreiben, und ich bin gespannt, was mich erwarten wird.